Wenn Zugehörigkeit zum Zwang wird
Der Duden[1] definiert die Zugehörigkeit als „Dazugehören, Verbundenheit und Mitgliedschaft zum Beispiel zur Familie, zu einem Verein, einer Partei“. Spektrum.de[2], ein Lexikon der Psychologie geht noch ein bisschen weiter und definiert Zugehörigkeit als „menschliches Grundbedürfnis, sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen und darin sozialen Rückhalt und Bestätigung zu finden (Identität)“. Es geht also um die eigene Identität. Die für die Menschen wichtigen Fragen wie „wer bin ich?“ und „was macht mich aus?“ werden zu einem Stückweit auch darüber beantwortet, zu welcher Familie, Gruppe oder Partei sich jemand (immer m/w/d) zugehörig fühlt, mit was er sich identifiziert, was also zur Identität wird.
Innerhalb von Gruppen gibt es normalerweise gewisse Regeln was „man“ tut, welches Verhalten akzeptabel ist und was von der Gruppe nicht toleriert wird. Unterstütz wird das Zusammengehörigkeitsgefühl in solchen Gruppen noch durch gleiche Abzeichen, Mützen oder Kleidungsstücke, die nach außen hin sichtbar die Zugehörigkeit demonstrieren. Während in Vereinen oder Parteien die gültigen Regeln der Zusammenarbeit oder die Rollen der einzelnen innerhalb der Gruppe relativ klar definiert und kommuniziert werden, kann das in Familien ganz anders sein. Zur Familie besteht die eigene Zugehörigkeit ab dem Zeitpunkt der Geburt. Sie wird also – anders als die Mitgliedschaft im Verein – von einer Person nicht bewusst gewählt. Auch in Familien können klare Regeln definiert sein, die den Mitgliedern bewusst sind und in denen auch transparent ist, was passiert, wenn sich jemand nicht an diese Regeln hält. Das kann zum einen sinnvoll und fördernd umgesetzt werden oder destruktiv und strafend. In beiden Fällen weiß das Familienmitglied, woran es ist.
Doch gibt es auch Familiensysteme, in denen die „Do’s and Dont’s“ unausgesprochen bleiben, in denen intransparent für die Mitglieder, nur indirekt, klar wird, was geht und was nicht mehr toleriert wird. In diesen Familien wird die Übertretung von Regeln nicht angesprochen. Vielmehr wird über subtile Methoden klar gemacht, wo es nicht weiter geht. Das kann über Mimik oder Gestik erfolgen, über eine veränderte Stimmlage oder über Handlungen wie Ausgrenzen und Liebesentzug. Wenn dies noch mit sogenannten Doppel-Botschaften kombiniert wird, also Botschaften, die eigentlich nicht zum Geschehen passen, führt das – vor allem, wenn es länger anhält – zu Verwirrung und die Betroffenen verlieren den Bezug zu ihrer eigenen Wahrnehmung. Sie verlernen, sich selbst zu vertrauen.
In solchen Gemeinschaften gibt es zusätzlich oft keine inneren Grenzen. Damit so ein Familiensystem funktioniert, „müssen“ sich alle Beteiligten an die unausgesprochenen Regeln halten, es herrscht meist eine glasklare Atmosphäre, was keinesfalls angesprochen werden darf. Diese so entstehenden Tabus sind nur schwer zu greifen und damit auch zu begreifen. Sie aufzudecken wird in der Regel von den anderen Familienmitgliedern nicht geduldet, da in solchen „verschmolzenen“ Familien, aufgrund der fehlenden inneren Grenzen, kein Mitglied anders sein oder eine andere Meinung haben darf. Wer doch widerspricht oder die unbewussten Prozesse aufzudecken versucht, wird unter Druck gesetzt. Hört die Person nicht auf, sich anders, als indirekt gefordert, zu verhalten, kann das bis zum Rausschmiss aus der Familie führen. Oft wissen die Betroffenen dann gar nicht recht, wie ihnen geschieht, denn häufig passt das auslösende Ereignis gar nicht zu der Heftigkeit der Reaktion aus der Familie.
Hier ist es enorm unterstützend, wenn die Person eine Begleitung hat, die ihr hilft, das Erlebte zu verstehen, zu sortieren und zu bearbeiten. Häufig treten starke Schuldgefühle auf und die Versuchung erscheint dann groß, zurück zu gehen und sich wieder einzugliedern. Solche Familiensysteme sind schwer zu verlassen, da oft auch unbewusste Abhängigkeiten bestehen. Es erfordert viel Mut, sich diesen Erfahrungen zu stellen, denn sie können zudem heftige Gefühle von Verlassenheit und Scham auslösen. Letztlich ist es möglich, sich zu lösen und zu lernen, mit der eigenen Familie, wenn das gewünscht wird, zu einem selbstbestimmten Zeitpunkt wieder in Kontakt zu treten, ohne sich erneut in das System verstricken zu lassen. So können die, zunächst unverdauten Inhalte, nach und nach zu einem Teil der eigenen Biografie werden und damit integriert und abgelegt.
[1] https://www.duden.de/rechtschreibung/Zugehoerigkeit
[2] Zugehörigkeit – Lexikon der Psychologie (spektrum.de)