Die Burgfamilie - wir gegen den Rest der Welt
In der Generation der Kriegsenkel, also derjenigen, die zwischen 1965 und 1975 geboren sind, identifiziert Sabine Bode bei ihren Recherchen einen Familien-Typ, den sie in Ihrem Buch Kriegsenkel[1] die Burgfamilie nennt. In diesem Artikel beleuchte ich den Typ der Burgfamilie etwas genauer, so wie er sich mir persönlich darstellt.
Das Bild der Burgfamilie sagt schon sehr deutlich aus, um was es bei dieser Art von Familie geht: um Zugehörigkeit. Entweder Du bist drin oder draußen. Um das Drinnen, also das Inner-Familiäre, liegen dicke Burgmauern und der Zutritt bzw. das Verlassen dieser Festung ist streng reglementiert. Das, was innerhalb der Mauern passiert dringt nicht nach draußen, bleibt „Familiensache“. Das hat verschiedene Auswirkungen: auf der einen Seite bietet dieser Familien-Typ ein starkes Zugehörigkeitsgefühl und damit eine große Portion Sicherheit. Auf der anderen Seite wird dafür eine Unterordnung zum Wohle der Familien-Gemeinschaft verlangt, die in der Regel nicht offen ausgesprochen ist.
So eine Burgfamilie hat die Tendenz, ihre Mitglieder, besonders die Kinder, emotional eng an sich zu binden, ja regelrecht zu verstricken, um dieses Gefühl der Burg-Sicherheit aufrecht erhalten zu können. Innerhalb der Burgmauern gibt es kaum die Möglichkeit, sich abzugrenzen, denn in diesem engen Gefüge sollen alle nach denselben Werten streben, vorhersehbar und im Sinne der Gemeinschaft denken und sich auch so verhalten. Eine Individuation der Einzelnen, vor allem der heranwachsenden Kinder, wird damit fast unmöglich.
In einer Burgfamilie herrscht Einigkeit, Freude und Harmonie. Konflikte, andere Meinungen oder individuelle Verhaltensweisen werden eher als Bedrohung der sehr eng geflochtenen Gemeinschaft wahrgenommen und unterbunden. Die Methoden, um das zu erreichen, können sich unterscheiden. Eine Möglichkeit ist die Androhung, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden und kommt einem Liebesentzug gleich. Das ist, vor allem für kleine Kinder, ein effektives Druckmittel, sie zu zwingen, sich an die Anforderungen in der Burg bedingungslos anzupassen.
Wer dabei an eine Familie denkt, die in einem abgelegenen Bergdorf, also räumlich isoliert, lebt, hat weit gefehlt. Denn bei dem Typ der Burgfamilie geht es nicht so sehr um physische Mauern, sondern vielmehr um emotionale Bande, die vor allem die Außengrenzen der Burg gegen die Welt absichern. Diese Bindungen sind umso stärker, je mehr von den Mitgliedern eine Identifizierung mit der Familie und ihren Vorstellungen und Werten gefordert wird. Wir gegen den Rest der Welt. Das beinhaltet auch ein starkes Bewertungssystem, so nach dem Motto: so, wie wir leben ist es gut, das was die anderen machen, wäre ja gar nichts für uns. Die eigenen Burg-Regeln und -Werte stehen deutlich über denen der anderen Familien, die im Vergleich abgewertet werden.
Wenn man jetzt bedenkt, dass die Eltern dieser Familien, häufig selber traumatisierte Kriegskinder sind, die bei einer Flucht oder bei Bombenangriffen während des zweiten Weltkrieges Lebensgefahr erleben, erscheint es verständlich, dass sie nach einer harmonischen, friedvollen Gemeinschaft streben, auf die sie sich unbedingt verlassen können. Der Burgfrieden wird zum höchsten Gut. Doch der Preis dafür ist hoch, denn jeder Schritt der Individuation, der Loslösung aus diesem engen Familiengeflecht, wird als Bedrohung der inneren Stabilität wahrgenommen und so gut es geht verhindert. Das wird von den Mitgliedern solange nicht wahrgenommen, bis die ersten Abgrenzungsversuche unternommen werden.
Wer sich aus einer Burgfamilie lösen will, muss mehrere Schritte vollziehen, die deshalb äußerst schwierig sind, da sie massive Schuldgefühle und Ängste auslösen können. Die Gemeinschaft zu verlassen kommt dem Gefühl gleich, die eigene Familie im Stich zu lassen. Im ersten Schritt geht es um eine echte Selbsterfahrung: wer bin ich, wenn ich kein Teil dieser Gemeinschaft bin? Im zweiten Schritt geht es um das Verlassen der sicheren Burg, um ein Sich-Lösen aus einer emotional eng gestrickten Gemeinschaft. Das kann neben Schuldgefühlen auch Ängste auslösen, denn im bisherigen Erleben ist etwas verankert, das „drin“ mit Sicherheit assoziiert und „draußen“ mit Gefahr. Hinzu kommt, dass Loslösungs-Versuche von den übrigen Burgmitgliedern tendenziell durch psychischen Druck verhindert werden. Denn: verlässt einer die Burg, wackelt das ganze System.
Als ehemaliges Burgfamilienmitglied ist es tatsächlich erst einmal schwierig, sich in der äußeren Welt zurecht zu finden. Denn all diese unausgesprochenen Nichtangriffspakte, die innerhalb der Mauern das Zusammenleben harmonisch regeln, gelten außerhalb der Burg nicht. Die fehlenden inneren Grenzen in solchen Familiengefügen bereiten ihre Mitglieder nicht darauf vor, sich gegen andere Menschen in gesunder Art und Weise abgrenzen zu können. Wer also seine Burgfamilie unbeschadet verlassen will, ist gut beraten, sich während dieses Prozesses unterstützen zu lassen. Sei es von Freunden, zugewandten Familienmitgliedern oder mittels therapeutischer Hilfe.
Siehe dazu auch meinen Artikel Kriegsenkel und Geflüchteten eine Stimme geben.