Geflüchteten eine Stimme geben

Ein Selbsterfahrungs-Experiment

Die Generation meiner Eltern hat den zweiten Weltkrieg erlebt. Als Kinder. Wenn mein Vater über seine Erlebnisse auf der Flucht erzählt klingt es, als erzählte er mir von seinem Besuch beim Bäcker heute Morgen. Es schwingen keinerlei Emotionen in seiner Stimme mit, alles klingt nüchtern, neutral und leicht. Einfach. Er erzählt häufig von einem großen Abenteuer, das er als Neunjähriger erlebt. Ein Abenteuer, bei dem er seine jüngste Schwester todkrank auf der Flucht zurücklassen muss. Sie ist damals erst drei Monate alt. Ob sie die Nacht überlebt scheint äußert fraglich. So entschließt sich meine Oma schweren Herzens, ihre Tochter beim nächsten Halt des Zuges einem zusteigenden Sanitäter zu übergeben, der das Baby mit in ein Lazarett nehmen soll. Später, wenn sie in Sicherheit sind, wollen sie Ulrike nachholen. So hat sie eine Chance zu überleben.

Beim Schreiben merke ich, wie nüchtern mein Stil klingt. So erzählt mein Vater. Allerdings ohne jede sichtbare oder spürbare Regung. Bei mir ist das jetzt gerade völlig anders. Während ich die oberen Zeilen schreibe – und auch jetzt noch – ist in mir innerlich plötzlich alles in Aufruhr. Ich spüre, so ist meine These, seine ungefühlte Gefühle. Mein Herz klopft, in mir steigt ein Unwohlsein auf. Woher? Was hat das mit mir zu tun? In meinen Träumen erscheinen immer wieder Szenen, die mit Krieg zu tun haben, die ich so nie erlebt habe. Meist ebenso emotionslos geträumt, wie mein Vater über dieses schreckliche Erlebnis nüchtern berichtet. Es handelt sich therapeutisch gesprochen um den Abwehrmechanismus der Affektisolierung1. Dabei wird die emotionale Reaktion auf ein Erlebnis ausgeblendet zum Beispiel, weil die zugehörigen Affekte nicht ausgehalten werden können. Ich frage mich, was ein Neunjähriger fühlt, der sieht, wie seine todkranke Schwester im Flüchtlingszug einem Fremden übergeben wird (in mir schwillt dieses unbestimmte Gefühl des Unwohlseins gerade beim Schreiben wieder an, es kommt der Begriff „Grauen“). Zu berücksichtigen ist dabei auch das Hintergrundgefühl der Angst, der Flucht vor den „Bösen“. Krieg bedroht die Familie, seine Mutter, seinen 2 Jahre jüngeren Bruder sowie seine vier Jahre jüngere Schwester und seinen Großvater, der in diesem Moment mit dabei ist. Sie mussten in der Nacht alles verlassen. Interessanterweise empfinde ich jetzt gerade beim Schreiben nicht das starke Gefühl von Grauen, das mich überkommt, wenn ich an meine Tante denke, das Baby, das todkrank zurückbleibt als der Zug sich wieder in Bewegung setzt. Die nie gefunden wird, da das Rotkreuz Lazarett, in das sie gebracht wird, einfach nicht mehr existiert. Das findet meine Familie heraus, als sie endlich in Sicherheit sind und sofort versuchen, Kontakt zu der Krankenstation aufzunehmen. Sie existiert nicht mehr. Und damit keine Papiere, keine Menschen, die man fragen könnte. Mein rechtes Bein kribbelt beim Schreiben, das Gefühl des Unwohlseins lässt langsam nach. Es geht über in Trauer und Mitgefühl. Für all die Anstrengungen, die meine Familie unternommen hat, um meine Tante, die kleine Ulrike wieder zu finden. Vergeblich. Das ist traurig. Es ist ein Schicksaal, wie es so viele trifft in dieser Zeit.

Ich wache heute Morgen auf mit der Überschrift im Kopf „Geflüchteten eine Stimme geben“. Die Geschichte meiner Familie beim erzählen nachspüren, um diese Emotionen, noch mal zuzulassen, die so lange nicht da sein dürfen, weil sie nicht auszuhalten sind. Die irgendwie ihren Weg in mein System finden und bei mir emotionslose Träume auslösen. Diese Emotionen in meinem System freizusetzen, in dem ich sie beim Schreiben spüre, ist die Idee dieses Experimentes. Um sie letztlich endgültig loszulassen als etwas, was mir eigentlich gar nicht gehört.

Jetzt frage ich mich gerade, ist das für irgendjemanden da draußen relevant?

1 Affektisolierung – Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik (stangl.eu)

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