Kriegsenkel: sekundäre Traumatisierungen in einer Generation mit Bilderbuchkindheit
Über Kriegskinder und Kriegsenkel gibt es bereits zahlreiche Veröffentlichungen. Dabei werden Kriegskinder als die Generation der Menschen angesehen, die zwischen 1935 und 1945 geboren und damit während des Krieges noch Kinder sind. Die Kriegsenkel sind deren Kinder, die zwischen 1965 und 1975 Geborenen. Den Kindern dieser Kriegskindergeneration scheint eins gemeinsam: sie wachsen in den 60-ger und 70-ger Jahren in (relativem) Wohlstand auf und sind materiell meist gut versorgt. Doch auf emotionaler Ebene gibt es Defizite in ihren Familien: viele erleben zu Hause eine Atmosphäre der Emotionslosigkeit. Ihre Eltern sind häufig selbst traumatisiert, glauben aber von sich, die frühen Jahre ihres Lebens in den Kriegswirren völlig unbeschadet überstanden zu haben. Über ihre Kriegserfahrungen als Kinder sprechen sie – wenn überhaupt – so rational und emotionslos, als würden sie von einer Geburtstagsfeier erzählen. Ein Anzeichen, dass die zugehörigen Gefühle für sie nicht mehr zugänglich sind. Wir wissen heute, dass Traumata unbewusst von Generation zu Generation weitergegeben werden.[1] Es ist von Gefühlserbschaften die Rede[2] also von einem Erbe von Gefühlen an eine Generation, die sie selber nicht erlebt haben. Es fällt auch mir schwer, über diese Widersprüche zu schreiben, ich bin einerseits Betroffene, andererseits stelle ich mich diesem Erbe und versuche, etwas Licht in das Dunkel zu bringen.
Die Familie nach dem Typ „wir gegen den Rest der Welt“
Sabine Bode beschreibt in ihrem Buch [3]„Kriegsenkel, die Erben der vergessenen Generation“ eine Familienkonstellation, die sie die Burgfamilie nennt. Ein Familientyp, der eine klare Grenze zieht zwischen drin und draußen. Nach meiner Auffassung zeichnet sich so eine Familie vor allem durch die strikte Zugehörigkeit aus, die sie von den Mitgliedern offen oder verdeckt fordert. Das bedeutet vor allem für die Kinder – also die Kriegsenkel – sich den Vorgaben und Erwartungen der Eltern zu unterwerfen, um die Harmonie zu bewahren. Wer nicht im Sinne der Familie funktioniert, den Burgfrieden stört, wird emotional unter Druck gesetzt mit der Drohung aus der Burg (Familie) geschmissen zu werden. Das ist ein vernichtendes Szenario für ein Kind: Liebesentzug und Ausschluss, ein Verlust der Zugehörigkeit. Das ist existenzbedrohend und das kann sich kein Kind leisten. Ein Kind, das emotional so unter Druck gesetzt wird, passt sich an, vermeidet Konflikte und verliert dadurch den Bezug zu den eigenen Bedürfnissen und Wünschen zum Wohle der Familie. Da das alles unbewusst passiert, kann ein Kind, das diese Erfahrungen macht, durchaus der Meinung sein, dass das Familienleben, das es erlebt, genau das ist, was es sich wünscht. Solche Kriegsenkel spüren intuitiv, was die Eltern von ihm erwarten und wie sie sich zu verhalten haben, ohne es zu merken. Das macht es so schwierig, diese Erlebnisse überhaupt erst wahrzunehmen, geschweige denn über sie zu sprechen oder darüber zu schreiben. Häufig werden auch die Familienmitglieder, die kritische Fragen stellen, von den anderen emotional unter Druck gesetzt, nicht an der heilen Welt zu kratzen, die die Familie als Ganzes kreiert hat. Denn das bedroht das gesamte Familiengefüge, also alle Mitglieder, die die lieber in ihrer Illusion bleiben wollen, dass alles okay ist.
Die Folgen für die Kinder aus diesen Familien
Die Folgen für die Kriegsenkel sind lang. Als besonders folgenschwer erachte ich die Tatsache, dass ihre Eltern sich hartnäckig weigern, sich und ihr Verhalten zu reflektieren und anzuerkennen, dass sie traumatisiert sind. Häufig fängt ein Kind in der Familie an, die Vergangenheit zu hinterfragen und stößt dabei meist sofort auf massive Ablehnung innerhalb der Familie. Der Frieden darf unter keinen Umständen gestört werden. Auch die eigenen Geschwister sind häufig nicht bereit, sich ihrem Erbe zu stellen. Das erschwert die Aufarbeitung und Verarbeitung enorm. Und doch werden sich immer mehr Menschen dieser Generation gewahr, dass sie die Folgen der unverarbeiteten Traumata ihrer Eltern tragen. Dazu gehören unter anderem Perfektionismus, diffuse Schuldgefühle, ein fehlendes Heimatgefühl, kein Zugang zu den eigenen Bedürfnissen, sich für andere verantwortlich fühlen, den eigenen Wahrnehmungen nicht trauen oder Gefühle der Rastlosigkeit, um nur einige zu nennen. Auch verstörende, immer wiederkehrende und unverständliche Träume können ein Anzeichen sein. In einem Familiensystem, wie ich es oben beschreibe ist zusätzlich eine Aggressionshemmung vorhanden, die es fast unmöglich macht, gesunde Grenzen zu setzen. Das öffnet Tür und Tor für Ausnutzung, Manipulation und Missbrauch.
Unterstützung und Heilung
Es ist unbedingt notwendig, solche emotionalen Verstrickungen wahrzunehmen und zu bearbeiten. Doch hierzu braucht es nach meiner Erfahrung die Unterstützung von erfahrenen Fachleuten (Psychotherapeuten), die sich zum einen mit dieser Materie auskennen und zum anderen einfühlsam und kleinschrittig vorgehen. Denn die damit verbundenen Schuld- und Schamgefühle, die die Kriegskinder häufig jahrzehntelang im Familiensystem und in ihrer Rolle halten, sind schwer alleine zu bewältigen. Es wird Zeit, uns nicht nur als Individuum, sondern auch als Gesellschaft diesem emotionalen Erbe des zweiten Weltkriegs zu stellen.
Siehe dazu auch meine Artikel Die Burgfamilie und Geflüchteten eine Stimme geben.
[1] Hintergrundinformationen zu verschiedenen Ansätzen Transgenerationale Weitergabe – Wikipedia
[2] Siehe hierzu auch Gefühlserbschaften – Gestalttherapie oder more.pdf
[3] Zum Beispiel hier „Kriegsenkel“ online kaufen