Komplementär-Narzissten
Komplementär-Narzissten (oder auch Co-Narzissten) lernen früh, die Bedürfnisse der anderen, in der Regel ihrer Eltern, zu erfüllen. Als parentifizierte Kinder[i] sind sie meist unauffällig und fleißig und erhalten häufig für ihr gutes Funktionieren oder gute Leistungen Aufmerksamkeit und Anerkennung. Diese Außen-Ausrichtung führt zum einen zu einer Überanpassung an die Wünsche und Vorstellungen ihrer Bezugspersonen (Autoritäten) für die sie ein großes Mitgefühl entwickeln. Nicht selten entwickeln sie einen gewissen Perfektionismus. Zum anderen verlieren sie dadurch gleichzeitig den Zugang zu ihren eigenen Gefühlen und Bedürfnisse, die in ihrer Welt unbeachtet bleiben. Das hat gravierende Folgen: die so geprägten Menschen kennen ihre Grenzen nicht, sind häufig von der Anerkennung der anderen abhängig, übernehmen zu viel Verantwortung, beziehen das, was in der Beziehung passiert, tendenziell auf sich und entwickeln dadurch schnell Schuldgefühle, wenn etwas schiefläuft. Kommt noch eine Aggressionshemmung hinzu, sind sie auch noch unfähig, missbräuchlichem Verhalten ihnen selbst gegenüber Grenzen zu setzen (um nur einige zu nennen[ii]).
Diese Persönlichkeitsstruktur und ihre Neigung zum Idealisieren machen Co-Narzissten besonders anfällig für narzisstische Manipulation und Verführung, vor allem wenn sich bei einer ihrer früheren Bezugspersonen ein Narzisst findet, der sie so zur Unterordnung und zum Funktionieren gebracht hat. Dann können sie zwar einem narzisstischen Partner später genau die Bewunderung geben, die dieser braucht, um sich großartig fühlen zu können, doch sie zahlen dafür meist einen hohen Preis. Im Laufe so einer Beziehungsdynamik werden sie meist abgewertet und durch Verunsicherung ihrer Selbstsicherheit und ihres Urteilsvermögens immer mehr beraubt.
Letztendlich tragen beide – der Narzisst und sein Komplementär – ähnliche Verletzungen in sich: sie wurden in ihrer Vergangenheit beide nicht mit ihren eigenen Bedürfnissen, als eigene Wesen, wahrgenommen und akzeptiert. Beide mussten sich anpassen, sie tun das nur auf komplementäre Art und Weise. In einer Beziehung versuchen beide mit traumwandlerischer Sicherheit das jeweils Fehlende vom anderen ersetzt zu kriegen. Was dann häufig in toxischen Beziehungsdynamiken endet, vor allem dann, wenn der Komplementär die Bewunderung im Laufe der Zeit reduziert und den Partner realistischer sieht, also nicht mehr im Sinne des Narzissten funktioniert.
Das Traurige daran ist, dass beide den anderen eigentlich nur als Objekt sehen, von dem sie sich erhoffen, endlich als eigenständiges Wesen wahrgenommen zu werden. Trotzdem muss hier unterschieden werden: der Komplementär-Narzisst hat Schuldgefühle, besitzt Reflektionsfähigkeit und ist darum bemüht, Harmonie herzustellen. Der Narzisst hat – vor allem, wenn er* erst in der Abwärtsspirale einer toxischen Dynamik ankommen ist – meist keine Einsicht, was er selbst dazu beiträgt und sucht die Schuld bei seinem Gegenüber. Ein Co-Narzisst scheint hingegen die Schuld zunächst automatisch bei sich zu suchen, bis er anfängt, die ihm entgegengebrachten Verhaltensweisen zu hinterfragen. Beide leiden über kurz oder lang in dieser Form der Beziehung und eine konstruktive, förderliche Weiterentwicklung ist tendenziell unmöglich. Während der Narzisst auch nach Beziehungsende wenig Interesse daran hat zu ergründen, was sein eigenes Verhalten mit den Problemen zu tun haben könnte, hat der Komplementär-Narzisst gute Chancen etwas aus so einer Beziehung zu lernen, wenn er beginnt, sich seinen eigenen Schatten-Themen zu stellen.
* im Text immer m/w/d
[i] Komplementärnarzissmus. Online Lexikon für Psychologie & Pädagogik (stangl.eu)
[ii] Co-Narzissmus: Über die Sucht, gebraucht zu werden – Gelassen mit Narzissten umgehen (andreas-gauger.de)